Ein Brief einer Neunjährigen an ihre Oma über ihre Ängste
In jeder Beratung, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, kommen Klient*innen irgendwann unweigerlich an einen Punkt, an dem sie ihr eigenes Elternverhalten mit ihren Kindheitserfahrungen vergleichen, wo sie ihre Erfahrungen mit den eigenen Eltern auswerten. So auch B*. Eines Tages kam sie zu mir und hatte den folgenden Brief dabei. Zwei Jahre später rief sie mich an, weil sie auf die Reihe im „Stern“ aufmerksam geworden war. Sie fragte mich, ob ich nicht ihren Brief einreichen wolle, damit sie anonym bleiben könne. Sie hoffte, auf diese Weise möglichst viele Trennungseltern für die Situation ihrer Kinder zu sensibilisieren und sie zu ermutigen, das aufrichtige Gespräch mit ihnen zu suchen.
Wenige Tage später erhielten wir dann die Nachricht, dass sich die Redaktion tatsächlich für den Abdruck entschieden hatte, und seit Sonntag ist er nun online.
Wir freuen uns auf Eure Reaktionen!


Liebe Omi,
bald sind die großen Ferien, und Mama hat gesagt, dass wir in diesem Jahr nicht verreisen, deshalb möchte ich dich fragen, ob ich dich dann besuchen kann.
Kann die Evi dann vielleicht mitkommen? Ihr Familie kann auch nicht in den Urlaub fahren, weil sie ein Geschwister bekommt. Du kennst doch die Evi, sie ist meine beste Freundin. Wir spielen viel zusammen.
Am liebsten spielen wir Vater, Mutter, Kind. Obwohl uns Ole, ihr großer Bruder, immer ärgert und sagt, sowas spielen nur Babys aber keine Schulkinder in der dritten Klasse. Wir haben eine Stelle im Garten, hinter Büschen, da haben wir eine Spielwohnung, da findet er uns nicht.
Evis Mama hat einen neuen Mann. Ihr Papa ist ausgezogen, als wir noch im Kindergarten waren. Jedes zweite Wochenende ist sie bei ihm, aber sie mag nicht mit ihm in den Urlaub fahren, weil sie nicht verpassen will, wenn das Baby kommt, und ihr Papa will ganz weit nach Amerika fliegen.
Evi hat Angst, dass ihre Mama, und vor allem Ben, der neue Mann, das Baby dann vielleicht mehr mögen als sie.
Ich habe große Angst, dass Papa auch ausziehen könnte. Mama und er streiten oft, oder sie hören auf zu sprechen, wenn ich in´s Zimmer komme. So wie heute, als ich vom Ballett zurückgekommen bin. Da waren beide in der Küche, als ich im Flur ganz leise meine Jacke ausgezogen habe. Weißt du, ich habe jetzt nämlich einen eigenen Haustürschlüssel, und ich wollte sie überraschen.
Ich habe deutlich gehört, dass sie laut gesprochen und gestritten haben. Als ich reinkam, lehnte Mama an der Spüle, Papa saß am Tisch, die Arme weit von sich gestreckt auf dem Tisch. Mama lächelte mich so komisch an. Sie sah aus, als hätte sie gerade geweint, und Papa zog mich an sich. Er sah mich ganz seltsam an und sagte: „Na, Große?“ Als ich fragte, was denn ist, hat keiner was gesagt, und dann haben wir den Tisch gedeckt. Wir hatten alle überhaupt keinen Hunger, und keiner hat was gesagt. Irgendwann hat sich Papa geräuspert. Er ist aufgestanden und hat gesagt, er fährt noch mal in die Firma.
Mama hat mich auf mein Zimmer geschickt. Wenn ich aufräumen würde, dann könnte ich danach noch meine Lieblingsserie gucken. Ich glaube, sie wollte einfach allein sein. Ich sollte weg sein.
Wir machen kaum noch normale Sachen zusammen. Früher haben wir oft was zusammen unternommen, alle drei – so wie Evi und ich es machen, wenn wir hinter den Büschen im Garten spielen.
In der Schule haben wir einen Zettel mitbekommen. Unsere Eltern sollen sich melden, wenn sie in die Schule kommen wollen, um von ihrer Arbeit zu erzählen. Ich wusste nicht, ob ich ihn Mama oder Papa geben sollte, deshalb habe ich ihn zerknüllt und in einen Papierkorb auf dem Schulhof geworfen. Das hat die Anni gesehen und gesagt, sie wird es melden.
Oma, meinst du, ich habe Mama und Papa geärgert? Glaubst du, dass sie deswegen so traurig sind und so oft streiten?
Die Lehrerin hat mich heute ermahnt, weil ich nicht aufgepasst habe. Das Diktat war auch nicht so gut. Vielleicht streiten sie deswegen?
Vielleicht wollen sie mich nicht mehr?
Ich möchte so gerne zu dir kommen, Oma!
Dann können Mama und Papa ein bisschen ausruhen, und vielleicht vertragen sie sich wieder, und keiner muss mehr so traurig sein.
Deine XXX
PS: Ich hab dich lieb, Omi.
PPS: Jetzt hab ich Angst, dass sie sich trennen, weil ich es manchmal denke.

Pingback: Brief soll Trennungseltern für die Situation ihrer Kinder sensibilisieren - Claus Verlag