Hilfe, unsere Kinder trennen sich

  • Beitrags-Kategorie:Mütter / Väter
  • Lesedauer:7 min Lesezeit

"Sich moralisch zu entrüsten ist absolut kontraproduktiv für alle Beteiligten."

Bernd, Großvater

„Lotti und Jan waren selbst noch Kinder als Lotti schwanger wurde. Sie ist meine Tochter aus erster Ehe. Ich bin Witwer. Ihre Mutter starb, als sie gerade mal zwei Jahre alt war. Sie hat einfach ein Päckchen zu tragen, macht es sich und anderen nicht leicht.

Doreen, meine zweite Frau, tut sich schwer mit Lottis Launen, mit ihrer Unselbstständigkeit. Wir haben noch eine gemeinsame Tochter bekommen, und natürlich ist ihr Verhältnis zu ihr inniger.

Jan kommt aus einem Umfeld, wo die Familie traditionell eine andere Bedeutung, einen höheren Stellenwert hat als bei uns. Als Erstgeborenem sehen sie dort ihm vieles nach. So auch seine Eskapaden mit Alkohol und Drogen. 

Die Beziehung zwischen den beiden war ein stetiges Auf und Ab. Ich weiß nicht, wie oft wir Lotti nachts aus der gemeinsamen Wohnung geholt und bei uns aufgenommen haben, weil sie sich bis auf´s Blut gestritten haben.

Mit der Geburt unseres ersten Enkelkindes vor drei Jahren schienen sie sich beruhigt zu haben. Jan hat eine Arbeit, der er regelmäßig nachkommt, inzwischen haben sie ein zweites Kind. Lotti ist Hausfrau und Mutter, Jan ein Ernährer mit bescheidenem Einkommen.

Vor zwei Jahren sind sie in ein Doppelhaus gezogen – gleich neben den anderen Großeltern – unterstützt von allen vier Großeltern. Ebenso wie Jans Eltern helfen wir aus, wo wir können.

Nun ist Lotti ausgezogen. Sie wohnt vorübergehend bei einer Freundin, hält es nicht mehr aus mit Jan und den ewigen Streits, seinen Vorwürfen, und sie fühlt sich überfordert mit den beiden kleinen Kindern. Sie will wieder arbeiten, hat es satt, zuhause „unter seiner Fuchtel“ und mit den Kindern isoliert zu sein. Jan droht ihr nun, ihr das Sorgerecht zu entziehen und ihr den Kontakt zu ihren Kindern zu verbieten.

Doreen und ich haben – genau wie die anderen Großeltern –  wirklich alles getan, um die junge Familie zu entlasten, sowohl finanziell als auch durch die Betreuung unserer Enkelkinder. Wir sehen die Überforderung meiner Tochter, und wir sehen, dass das auch auf Jan zutrifft, denn nicht er, sondern seine Mutter hält den Laden am Laufen. Sie ist nicht erwerbstätig. Sie versorgt die Kleinen im Alltag, bringt sie in die Krippe und in den Kindergarten. Seitdem Lotti ausgezogen ist, sprechen weder Jan noch seine Eltern mit uns.

Wenn Lotti die Kinder sehen will, dann muss sie sich seinen Regeln unterwerfen. Er schikaniert sie regelrecht. Klappt das nicht, dann ist das Gezeter und Geschrei groß.

Die Kinder sind völlig durch den Wind, Lotti ebenfalls. Das schaukelt sich häufig so auf, dass es ihr gar nicht gelingt, sich entsprechend Jans Vorgaben zu verhalten. Die Kinder sind 1,5 und 3 Jahre alt. Die brauchen ihre Mutter doch! Was können wir tun?“

Wenn wir aus dieser Situation mal alle Moral und jede Emotion herausnehmen und uns allein an den Bedürfnissen von Kindern in dem Alter von Bernds Enkelkindern orientieren, so können wir feststellen, dass es aus deren Sicht vorrangig um Regelmäßigkeit und Zuverlässigkeit geht. Sie sind in ihrem vertrauten Zuhause, in unmittelbarer Nähe der Großmutter geblieben, zu der sie ebenfalls eine Bindung haben. Beide Kinder besuchen eine Betreuungseinrichtung, in der sich pädagogische Fachkräfte um sie bemühen.

Dort finden sie vertraute Strukturen vor, die der häuslichen Verunsicherung durch die Trennung ihrer Eltern große Sicherheit und ein hohes Maß an Stabilität entgegensetzen.
Rein sachlich betrachtet spricht also nichts dagegen, die Kinder in dieser vertrauten Umgebung mit all den Ressourcen zu lassen. Lotti bricht mit ihrem Weggang aus der Familie ein gesellschaftliches Tabu, das lautet: „Eine Mutter verlässt ihre Kinder nicht!“

Das ist tief in unserem kollektiven Bewusstsein verankert. Seine Wurzeln reichen bis in die Entstehung des Christentums zurück, sind so alt wie patriarchale Gesellschaftsordnungen aller Kulturen. Wenn Väter ausbrechen, die Familie verlassen, dann ist das vielleicht traurig und sicher eine Krise für alle Betroffenen, doch wenn Mütter gehen, dann ist das unverständlich und eine Sünde. All das schleppt die ohnehin schon überforderte Lotti in unserem Beispiel auf ihren Schultern mit sich herum.

Ich kann Bernd nur empfehlen, seine Tochter zu einem Erstgespräch in einer Erziehungsberatungsstelle zu ermutigen oder gar zu begleiten. Entweder wird sie dort den oder die richtige AnsprechpartnerIn finden, der/die sie in einem geschützten Raum dabei begleitet, herauszufinden, wie sie die Beziehung zu ihren Kindern gestalten kann und will – oder man wird ihr behilflich dabei sein, diesen Raum zu finden. Sich moralisch zu entrüsten ist absolut kontraproduktiv für alle Beteiligten. Hier geht es darum, eine Beziehung zu gestalten, die den Kindern und den Eltern gerecht wird. Und das kann nur gelingen, wenn die Betroffenen selbst einen Weg finden, der zu ihnen, zu ihren Möglichkeiten und zu ihrer Situation passt.

Will Lotti regelmäßigen Kontakt zu ihren Kindern, dann wird ihr das entgegen Jans Drohung niemand verwehren. Ist sie mit der Gestaltung des Kontakts unter den aktuellen Bedingungen überfordert, so könnten Bernd und Doreen sie vielleicht für Eltern-Kind-Kurse bei Bildungsträgern, für Turn- oder Schwimmkurse interessieren, die sie gemeinsam mit ihren Kindern besuchen könnte. So hat sie Kontakt zu ihren Kindern, muss sich jedoch nicht um die inhaltliche Gestaltung kümmern. Das entlastet sowohl sie als auch ihre Kinder, denn sie erleben auf diese Weise Quality-Zeit unbeschwert mit viel Raum für Bindung und Beziehung. Als nächstes braucht Lotti Unterstützung bei der Gestaltung der Übergabe-Situationen. Längere Zusammentreffen erscheinen vorübergehend wenig sinnvoll, da sie den Konflikten zwischen Lotti und Jan einfach zu viel Raum zur Eskalation bieten.

Wenn wir an die Phasen einer Trennung denken, dann wissen wir, dass es Zeiten gibt, in denen Konflikte unvermeidbar sind. Konflikte, die nach Abstand und danach rufen, sich selbst, einen eigenen Standpunkt zu finden.

Für Bernd ist es schwer, die Dinge so zu betrachten, wie sie sind. Ja, seine Tochter ist Mutter – und sie ist überfordert. Auch Jan ist überfordert, die gemeinsamen Kinder allein zu erziehen. Doch hat er, eng und räumlich eingebunden in seine Herkunftsfamilie, eine Mutter, die ihm die Care-Arbeit abnimmt und den Kindern damit ein vertrautes Umfeld erhält.

Die Kinder haben Kontakt zu beiden Eltern, und beide müssen ihre Beziehung zu ihnen neu finden und gestalten. Ich glaube, realistisch und aus Sicht der Kinder betrachtet, gibt es für diese Ausgangssituation zunächst keine bessere Alternative.

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